Was ist ME/CFS?

 

 

ME/CFS ist eine chronische neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die mit schweren körperlichen Einschränkungen einhergeht. Sie ist charakterisiert durch eine lähmende körperliche und geistige Erschöpfung sowie zahlreiche weitere Symptome, die zu Behinderungen führen können. Dazu gehören z.B. schmerzende Lymphknoten, Gelenk- und Muskelschmerzen, Magen-Darmbeschwerden, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

 

Nach Schätzungen des Bundesverbands Chronsiches Erschöpfungssyndrom Fatigatio e.V. leiden in Deutschland etwa 300.000 Menschen an ME/CFS. Weltweit geht man von etwa 17 Millionen Erkrankten aus. ME/CFS kann Kinder, Frauen und Männer aller ethnischen Gruppen, jeden Alters aus allen sozioökonomischen Schichten treffen.

 

Die genauen Ursachen für ME/CFS sind noch unbekannt. Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass unterschiedliche Auslöser, auch in Kombination miteinander, zum Krankheitsbild ME/CFS führen können. Einige Arbeitshypothesen befassen sich dabei mit Veränderungen in der Gen-Aktivität, Proteinabweichungen der Hirnflüssigkeit sowie Schäden auf zellulärer Ebene, z.B. der Mitochondrien und Zellmembranen. Viele Forscher nehmen bei ME/CFS eine durch Viren hevorgerufene chronische Schwächung oder Überaktivierung des Immunsystems an. Es finden sich zahlreiche messbare Laborparameter, die auf ein nicht enden wollendes Infektionsgeschehen bzw. ein durch Viren „umprogrammiertes“ Immunsystem verweisen.Im Verdacht stehen dabei immer wieder bestimmte Erreger wie das Epstein-Barr-Virus (EBV), das Cytomegalievirus (CMV) oder das Humane-Herpes-Virus 6 (HHV6). 2009 identifizierte das Whittemore-Peterson-Institute in Nevada, USA einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Humanen Gamma-Retrovirus XMRV und ME/CFS. Das Virus wurde drei Jahre zuvor erstmals im Gewebe von Prostatakarzinomen entdeckt. Die Ergebnisse nachfolgender Studien sind bisher ambivalent; noch ist nicht klar, ob und wenn ja welche Rolle XMRV bei der Pathogenese von ME/CFS spielt.

 

Es gibt bislang noch keinen einfachen, für alle Fälle des ME/CFS zutreffenden diagnostischen Test, aber es gibt zahlreiche Testverfahren, mit denen die typischen Anomalien im Immunsystem, in der Herz-Kreislauf-Regulation, im autonomen Nervensystem, dem zentralen Nervensystem, dem Gehirn, dem Energiestoffwechsel und den Mitochondrien, in der Genexpression und vor allem die zahlreichen, typischen Virusbelastungen gemessen werden können. Es handelt sich hier um teilweise sehr einfache Testverfahren wie etwa einen Kipptisch-Test zur Feststellung der orthostatischen Intoleranz, teilweise um hochkomplexe biochemische Testverfahren.

Aber auch wenn ein Arzt keine dieser zahlreichen, typischen Anomalien testen kann oder will, ist das Krankheitsbild so typisch, dass es mit ein wenig Erfahrung und anhand der Kanadischen Klinischen Kriterien diagnostiziert und von anderen Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik unterschieden werden kann.

 

 

Als Grundlage in der ME/CFS Forschung und zur klinischen Diagnose hat sich international die sogenannte „Kanadische Definition“ von 2003 durchgesetzt. Anhand dieses Definitionsschmas kann die Diagnose ME/CFS klinisch gesichert werden. Das Kanadische Konsensusdokument stellt die Diagnose ME/CFS nach folgenden Kriterien: Für ME/CFS müssen nach Ausschluss anderer physischer oder psychischer Erkrankungen, die den Zustand erklären könnten, folgende Symptome vorliegen (Einschränkungen in Klammern).

 

1. Erschöpfung und Zustandsverschlechterung nach Belastung (alle Kriterien dieses Abschnittes müssen erfüllt sein):

 

  • Der Patient muss unter einem deutlichen Ausmaß einer neu aufgetretenen, anderweitig nicht erklärbaren, andauernden oder wiederkehrenden körperlichen oder mentalen Erschöpfung leiden, die zu einer erheblichen Reduktion des Aktivitätsniveaus führt.
  • Es liegen ein unverhältnismäßiger Verlust von körperlicher und geistiger Ausdauer und eine rasche muskuläre und kognitive Ermüdbarkeit vor. Nach Belastung kommt es zu einer Zustandsverschlechterung und/oder Erschöpfung und/oder Schmerzen sowie einer Tendenz zur Verschlimmerung anderer Symptome innerhalb des Symptommusters des Patienten. Die Erholungsphase ist pathologisch verlangsamt und dauert gewöhnlich 24 Stunden oder länger.

 

2. Schlafstörungen: Der Schlaf ist von der Qualität oder Menge her nicht erholsam oder es liegen Störungen des Schlafrhythmus’ vor (z.B. Vertauschung des Tag-Nacht-Rhythmus’, chaotische Tagesschlafrhythmen)

 

3. Schmerzen: Es liegt ein deutliches Ausmaß an Myalgien vor. Die Schmerzen treten in den Muskeln auf und/oder in den Gelenken und sind oft generalisiert und wandernd. Häufig treten erhebliche Kopfschmerzen eines neuen Typus’, Musters oder Schweregrads auf.

 

4. Neurologische/Kognitive Manifestationen (Mindestens 2 Kriterien müssen erfüllt sein):

 

  • Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und der Konsolidierung des Kurzzeitgedächtnisses
  • Schwierigkeiten mit der Informationsverarbeitung, mit Kategorienbildung und Wortfindung
  • Es können Überlastungsphänomene auftreten: Bei Überlastung durch kognitive und sensorischen sowie emotionale Einflüsse kann es zu Rückfällen und/oder Angstzuständen kommen (oft Lichtempfindlichkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Lärm)
  • Wahrnehmungs- und sensorische Störungen: z.B. räumliche Unsicherheit und Desorientierung, Unfähigkeit, den Blick zu fokussieren.
  • Verwirrtheit, Desorientiertheit
  • Ataxien (Bewegungskoordinationsstörungen)
  • Muskelschwäche und Muskelzuckungen

 

5. Autonome/ neuroendokrine/ immunologische Manifestation (mind. je ein Symptom in wenigstens zwei der folgenden Kategorien muss erfüllt sein)

 

- Autonome Manifestationen:

  • orthostatische Intoleranz (z.B. neural vermittelter niedriger Blutdruck (NMH),
  • Posturales Tachykardiesyndrom (POTS), verzögerte posturale orthostatische Intoleranz,
  • Benommenheit und/ oder Schwindel
  • extreme Blässe
  • Darm- und Blasenstörungen, z.B. Reizdarmsyndrom und Blasendysfunktion
  • Übelkeit
  • Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen
  • Kurzatmigkeit nach Belastung

 

- Neuroendokrine Manifestationen:

  • Verlust der thermostatischen Stabilität, z.B. subnormale Körpertemperatur und ausgeprägte Tagesschwankungen, episodisches Schwitzen, rezidivierendes Fiebergefühl und kalte Extremitäten
  • Intoleranz gegenüber Hitze- und Kälteextremen
  • deutliche Gewichtsveränderungen: Anorexie oder anormaler Appetit
  • Verlust der Anpassungsfähigkeit und Symptomverstärkung bei Stress

 

- Immunologische Manifestationen:

  • schmerzhafte Lymphknoten
  • wiederkehrende Halsschmerzen
  • wiederkehrende grippeähnliche Symptome
  • allgemeines Krankheitsgefühl
  • neu auftretende Überempfindlichkeiten gegen Nahrungsmittel, Medikamente und/oder Chemikalien.

 

6. Die Krankheit muss seit mindestens sechs Monaten bestehen: Der Beginn ist gewöhnlich abrupt und klar erkennbar, obwohl er auch schleichend sein kann. Bei Kindern ist ein Zeitraum von drei Monaten angemessen.

 

 

 

Das Set an Symptomen und die Ausprägungen sind bei jedem an ME/CFS erkrankten Menschen unterschiedlich. Die Symptome können sich in Intensität und Auftreten dabei im Laufe der Erkrankung verändern. Weil die Ursache der Erkrankung nicht bekannt ist, gibt es keine allgemeinen Therapieempfehlungen; eine Behandlung kann nur individuell und symptombezogen erfolgen.

 

Wie bei allen Erkrankungen kann es zu spontanen Rückbildungen kommen, die Rückfallrate ist allerdings hoch- besonders nach banalen Infekten, physischer Belastung oder Stress. Über die Jahre kommt es häufig zu einer langsamen Besserung mit Rückfällen und Erholungsphasen. Der Grad der Behinderung kann bei ME/CFS bis zur vollkommenen Bettlägerigkeit gehen. Nur wenige erholen sich irgendwann soweit, dass sie wieder arbeiten gehen können. Gesicherte Daten über die Heilungschancen bei ME/CFS liegen bisher kaum vor; Metastudien sprechen von einer Rate zwischen 0 und 12%.

 

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